Gemeinsam getrennt erziehen: Zehn überraschende Einsichten

­Bild: Linda Nielsen

Dr. Linda Nielsen ist Professorin für Jugend- und pädagogische Psychologie an der Wake Forest University in North Carolina, USA. Sie hat zahlreiche Artikel über die Forschung zur gemeinsamen Elternschaft nach Trennung und Scheidung verfasst und wird häufig von Ausschüssen von Legislativen Organen und Familiengerichten eingeladen, über den Stand der Forschung dort vorzutragen. Für Kopien ihrer Forschungsartikel wenden Sie sich bitte an nielsen@wfu.edu.

Übersetzung, mit Erlaubnis der Autorin: Tim Walter, FDP Hamburg
Zwischenüberschriften von mir eingefügt

von Linda Nielsen

Doppelresidenz – ist das nicht nur in Einzelfällen sinnvoll?

Welcher Betreuungsmodus ist nach Trennung und Scheidung aus Sicht der betroffenen Kinder am nützlichsten? Leben Kinder nach Trennung besser mit einem Elternteil, in einem sog. ‚Einelternhaushalt’, und haben dann mehr oder weniger häufige Besuche beim anderen Elternteil (sog. ‚Residenzmodell’)? Oder geht es den Kindern besser, wenn sie mit beiden Eltern nach der Trennung zusammenleben, mit Zeitanteilen von mindestens 35% bei beiden Elternteilen (sog. ‚Doppelresidenzmodell’, auch: Wechselmodell)? Welchen Einfluss auf die Antwort hat dabei die Frage eines hohen und fortdauernden Konfliktniveaus der Eltern? Ist es in der Realität nicht vielmehr so, dass Doppelresidenzmodelle sich nur für eine bestimmte Gruppe von Eltern eignen, oder von diesen gewählt werden? Solche Eltern mit tendenziell eher höherem Einkommen, mit niedrigerem Konfliktniveau, mit der Fähigkeit zu guter Kooperation und vor allem einer gemeinsamen und freiwilligen Einigung auf ein solches Betreuungsarrangement?
Um diese Fragen zu beantworten, habe ich 54 Studien überprüft, die die Ergebnisse von Kindern in getrennt- und alleinerziehenden Familienkonstellationen unabhängig von Familieneinkommen und elterlichen Konflikten verglichen haben. In einer weiteren neueren Studie untersuchte ich alle Studien, die Konfliktniveau und die Qualität der elterlichen Kooperation zwischen den beiden Gruppen von Eltern verglichen. Zehn Erkenntnisse entstanden aus meiner Forschung, von denen viele der häufig vorgetragenen Glaubenssätze widerlegten, die nicht selten zu Sorgerechtsentscheidungen führen, die dem Kindeswohl oft nicht entsprechen.

Zusammenfassung der Ergebnisse in 10 Punkten

  1. Abgesehen von Konstellationen, in denen Kinder Schutz vor einem missbräuchlichen oder vernachlässigenden Elternteil benötigten, noch bevor ihre Eltern getrennt waren – hatten Kinder in allen 54 Studien in Doppelresidenzkonstellationen bessere Ergebnisse als Kinder in sog. ‚Einelternfamilien’. Messungen zum Wohlbefindens umfassten dabei: akademische Leistung, emotionale Gesundheit (Angst, Depression, Selbstwertgefühl, Lebenszufriedenheit), Verhaltensstörungen (Kriminalität, Schulmissbrauch, Mobbing, Drogen, Alkohol, Rauchen), körperliche Gesundheit und stressbedingte Erkrankungen, und Beziehungen zu Eltern, Bonuseltern und Großeltern.
  2. Babies und Kleinkinder in Doppelresidenz-Familien haben nirgends schlechtere Ergebnisse als die in sog. ‚Einelternfamilien’. Die Aufteilung der Betreuung bei Übernachtungen bei beiden Elternteilen führte nicht zu einer Schwächung der Bindung der jungen Kinder gegenüber einem oder beiden Elternteilen.
  3. Wenn das elterliche Konfliktniveau berücksichtigt wurde, hatten die Doppelresidenz-Kinder immer bessere Ergebnisse, und dies über mehrere Aspekte des Wohlbefindens. Hoher Konflikt hat die Vorteile der Doppelresidenz nicht übersteuert, so dass die besseren Ergebnisse der Doppelresidenz-Kinder nicht auf ein niedrigeres elterliches Konfliktniveau zurückzuführen sind.
  4. Auch wenn das Familieneinkommen berücksichtigt wurde, hatten die Doppelresidenz-Kinder unabhängig davon bessere Ergebnisse. Darüber hinaus waren die untersuchten Doppelresidenz-Eltern im Schnitt wirtschaftlich nicht wesentlich bessergestellt als die sog. ‚Einelternfamilien’.
  5. Beobachtete Doppelresidenz-Eltern hatten in der Regel keine besseren Beziehungen zueinander oder allgemein deutlich geringere Konflikte als Eltern im Residenzmodell. Die mit der Doppelresidenz verbundenen Vorteile ließen sich nicht auf eine bessere Kooperation der Eltern oder auf ein niedrigeres Konfliktniveau der Eltern zurückführen.
  6. Die meisten Doppelresidenz-Eltern konnten sich anfangs nicht einvernehmlich verständen bzw. lehnten ein Betreuungsarrangement im Sinne einer Doppelresidenz ab. In der Mehrzahl der Fälle widersetzte sich ein Elternteil zunächst einem entsprechenden Betreuungsarrangement und wurde aufgrund von Gerichtsverhandlungen, gerichtlichen Vergleichen- oder beschlüssen zum Einlenken bewegt oder gezwungen. Aber auch unter diesen Voraussetzungen der Einrichtungen der Doppelresidenz zeigten die Kinder in den Studien bessere Ergebnisse als die Kinder in sog ‚Einelternfamilien’.
  7. Wenn Kinder hohen, anhaltenden Konflikten zwischen ihren Eltern, einschließlich körperlichen Konflikten ausgesetzt sind, haben sie keine schlechteren Ergebnisse in einem Doppelresidenz-Arrangement als in sog. ‚Einelternfamilien’. Die Beteiligung an einem hohen, anhaltenden Konflikt ist für Kinder ist in einer Betreuung in der Doppelresidenz nicht schädlicher als in einem Residenzmodell.
  8. Die Aufrechterhaltung starker Beziehungen zu beiden Elternteilen, indem Trennungskinder in Doppelresidenzen leben, scheint den durch hohen elterlichen Konflikt und mangelnde Kooperation der Eltern entstehenden Schaden tatsächlich zu kompensieren. Obwohl ein Doppelresidenz-Arrangement die negativen Auswirkungen der häufig im hohen, anhaltenden Konflikt zwischen den getrennten Eltern stehenden Kinder nicht beseitigen kann, so scheint es, dass doch Stress, Angst und Depression der Kinder reduziert wird.
  9. Doppelresidenz-Eltern sind eher geneigt, abgewandte, selbstbezogene und „parallele“ Erziehungsstile zu pflegen, als sich auf eine gemeinsame Elternebene mit Kooperation und enger Zusammenarbeit einzulassen, in der sie häufig kommunizieren, regelmäßig interagieren, die Haushaltsregeln und -routinen koordinieren müssen, oder gar versuchen, mit einem einheitlichen Stil zu erziehen.
  10. Keine Studie hat gezeigt, dass Kinder, deren Eltern über Anwälte kommunizieren oder ihre Konflikte zum Sorge- und Umgangsrecht zum Familiengericht eskalieren, schlechtere Ergebnisse erzielen als Kinder, deren Eltern weniger auf Anwälte setzen und deren Konflikte nicht oder weniger oft zum Familiengericht eskalieren
Diese Ergebnisse widerlegen eine Reihe populärer Vorurteile über gemeinsame Elternschaft nach Trennung und Scheidung. Eines von vielen Beispielen ist eine Studie aus dem Jahre 2013 von der University of Virginia, über die in Dutzenden von Veröffentlichungen/Medien auf der ganzen Welt unter erschreckenden Schlagzeilen berichtet wurde: „Übernachtungen weg von Mama schwächen kleinkindliche Mutterbindung.“ In der offiziellen Pressemitteilung hieß es seitens der Forscher, dass ihre Studie die Entscheidungen von Familiengerichten über Umgangsregelungen für Kinder unter vier Jahren unterstützen soll. Tatsächlich aber ist die Studie in keinster Weise verallgemeinerbar bzw. für Fälle in der normalen Bevölkerung anwendbar. Die Teilnehmer der Studie waren verarmte, schlecht ausgebildete, nicht-weiße Eltern, die niemals verheiratet oder zusammengelebt hatten, mit hohen Inhaftierungsraten, Drogenmissbrauch und Gewalt, und die Eltern hatten jeweils Kinder mit mehreren Partnern. Darüber hinaus gab es keine klaren Verhältnisse zwischen Übernachtungen und Bindungen der Kinder an ihre Mütter.
Meine Überprüfung von 54 Studien über gemeinsame Elternschaft nach Trennung und Scheidung konstatiert, dass unabhängig von elterlichen Konflikten und Familieneinkommen Kinder in Doppelresidenz-Arrangements bessere Ergebnisse erzielen, und zwar über eine Vielzahl von Faktoren des Wohlbefindens erzielen als Kinder in sog. ‚Einelternfamilien’. Mit der Ausnahme von Settings, in denen Kinder Schutz vor einem missbräuchlichen oder vernachlässigenden Elternteil brauchen. Das Wissen und die Einsicht durch diese Erkenntnisse erlaubt es uns, nun einige der Mythen zur Doppelresidenz zu zerlegen, damit wir endlich die Interessen der Millionen von Kindern, deren Eltern nicht mehr zusammenleben, besser berücksichtigen können.